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Neuerscheinungen 2012

Stand: 2020-01-07
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Peter Trier, Lyonel Trouillet (Beteiligte)

Jahrestag


Aus d. Französ. v. Trier, Peter
2012. 98 S. 21.5 cm
Verlag/Jahr: LITRADUKT 2012
ISBN: 3-940435-12-0 (3940435120)
Neue ISBN: 978-3-940435-12-5 (9783940435125)

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Port-au-Prince, Anfang 2004, Jahr der zweihundertjährigen Unabhängigkeit Haitis. Der Student Lucien Saint-Hilaire begibt sich aus dem Slum, in dem er wohnt, zu einer Demonstration. Die Stimmen der Personen, denen er begegnet, und die, mit denen er im Geist Zwisprache hält, treten in Dialog zu seinen Gedanken und bilden eine Typologie der haitianischen Gesellschaft. Vor dem Leser, der Lucien Saint-Hilaire bis zur letzten Polizeiattacke begleitet, entsteht das Bild eines zutiefst zerrissenen Landes, aber auch der erneuernden Kräfte.
Der Student ging den Hügel hinunter und trat vorsichtig auf, um seinen Bruder nicht zu wecken, der im gemeinsamen Zimmer noch schlief, den Kopf unter dem Kissen, einen Daumen im glücklichen Mund und auf dem Gesicht allen Frieden der Welt, einen Frieden, so dauerhaft wie die Kindheit und ebenso zerbrechlich, einen aus dem Zusammenhang gerissenen Frieden auf diesem Engelsgesicht am falschen Ort, das keine richtige Einheit mit dem Rest bildete: Arme, Rumpf und Beine waren bis zu den Fußsohlen bedeckt mit zusammengewürfelten tätowierten Helden und Slogans: Guevara, Wycleef Jean, Tim Duncan, shoot to kill, Frauen sind Scheiße, die Ratten vermodern in ihrem Loch, ich will alles, peace and love. Das Erwachen war immer schmerzhaft und heftig, und dem Studenten war nicht nach einem Kampf mit diesem Buch- und Schauspielkörper zumute, der ständig alles und jedes zugleich bedeutete. [...] Sollte er jemals einen Roman schreiben, dachte sich der Student, während er lautlos den Hügel hinunterging, dann würde er einen schreiben, dessen Held die Stille wäre, ein Buch des Blicks, das sich den Lärm sparte. Welcher Passant würde ihm glauben, wenn er ihm sagte, dass sein Glück für diesen Tag gemacht war, dass er kein großes Glück erwartete: einen Gedanken für Ernestine, einen für die Ausländerin und einen dritten für das Meer, dass er den Hügel hinunterging und an nichts weiter dachte, an nichts Gutes und nichts Böses, darüber freute, dass an diesem Morgen anders als am Vortag die Sonne schien. [...] Er liebte diese Dezembersonne, die so leicht am Himmel emporstieg, als hätte sie nichts zu tun mit der galoppierenden Teuerung, dem Beginn des Studienjahres, all den Belastungen des täglichen Lebens in den vergangenen Monaten und der schwersten von allen, der quälenden Rückkehr zum Baum des Ursprungs in der Septemberhitze, dem Wiedersehen mit der Kindheit, den Mädchen der ersten Liebschaften, die die Zeit in stämmige Bäuerinnen mit O-Beinen wie Pelé und mit Primarabschlussstimmen verwandelt hatte [...]. Und der peinvollste Moment, wenn seine Mutter, auf ihrem niedrigen Stuhl sitzend, die Hände über dem Gehstock gefaltet, blind und ganz Licht, mit dem Ohr die kleinste Bewegung wahrnehmend, ihn nach dem Kleinen fragte. Und er wusste nicht, was er antworten sollte, denn er wusste, dass sie hinter ihren leeren Augen dennoch das Ausmaß des Desasters ahnte, dass ihr Schmerz und ihre Sorge ohne allzu große Mühe die Mauer der Blindheit durchbrachen, aber mit der Lüge Ränke schmiedeten, um sie zu schützen, sie, die auf Illusionen angewiesen war. Lucien, ich will wissen, was der Kleine macht! Und er fand keine richtige Antwort, spielte seine Botenrolle schlecht, verlor das Gesicht vor der Blinden, wusste sich nackt, suchte den Schatten und verbarg sein Gesicht hinter seinen ´Philosophenhänden´, flüchtete sich in Schweigen und sagte die Dinge innerlich. Ach, Ernestine Saint-Hilaire, nicht nur deine Augen sehen nicht mehr! Umsonst klopfst du mit deinem Stock auf den Boden, und es hilft dir nichts zu schreien: Ich, die schwarze Ernestine Saint-Hilaire, will, dass du mir sagst, was der Kleine macht! Was geschehen ist, ist geschehen. Schweig, meine Mutter, lass die Stille gewähren. Es ist schon so lange her, dass der Kleine in der Unterwelt von Port-au-Prince rasch groß geworden ist. So lange schon will der Kleine weder von der Mutter noch vom Zentralplateau etwas hören. [...] Und der Student hätte am lieben geschrien, dass vier Jahre nicht ausreichten, um hm den Status des Ältesten zu verleihen, dass er darunter litt, dass sie niemals gefragt hatte und du, Lucien, wie geht es dir?, sondern nur wie lange brauchst du noch? Und außerdem, Scheiße, ich liebe dich, Ernestine Saint-Hilaire, aber haut ihr euch hier in dieser heruntergekommenen Gegend nicht weiterhin für eine Handvoll Bohnen und ein paar Maiskolben den Kopf ab? Und Ernestine, die wieder stark wurde, wenn sie von Dingen, die sie kannte, und von ihrer eigenen