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Neuerscheinungen 2014

Stand: 2020-02-01
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Sama Maani

Ungläubig


Roman
2014. 160 S. 209 mm
Verlag/Jahr: DRAVA 2014
ISBN: 3-85435-733-8 (3854357338)
Neue ISBN: 978-3-85435-733-9 (9783854357339)

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Es ist ein recht einseitiger Briefwechsel, in zweifacher Hinsicht: Arasch Bastani, ein Medizinstudent, der, in Teheran geboren, nun in Graz lebt, schreibt Briefe an seine Psychiatrin Veronika Wundt, auf die er nie eine Antwort enthält. Und Arman Kalami, Kommunist und Ex-Aktivist der ´Teheraner Revolution´, möchte die Teheraner Revolution ´vom Kopf auf die Füße zu stellen´ und schreibt Berichte an das ´werte Zentralkomitee´. Und dann gibt es Danusch, Araschs verschollenen Onkel, der nach Kalamis Willen als ´Messias und Erlöser der Menschheit´ auftreten und eine Glaubensrevolution in Gang setzen soll.
Arasch widerfährt seit Wochen Mysteriöses, er ist im Begriff, den Verstand zu verlieren. Eins nach dem anderen verschwinden seine geliebten ´literarischen Bücher´, tauchen aber wenig später wieder auf, jeweils zusammen mit einem Gegenstand, den jemand zwischen die Seiten gelegt hat. Es sind Hinweise auf Danusch, der in den Sechzigern nach Indonesien gegangen war, um für jene Glaubensgemeinschaft zu missionieren, der Araschs Familie angehört, der sich dieser aber ´durch sein Ungläubigwerden´ entzieht.
Als Kalami schließlich behauptet, Danusch sei am Leben und wünsche, mit ihm, Arasch, in Kontakt zu treten, erfasst Arasch Panik. Es kommt so schlimm wie erwartet.
Die Identitäten verschwimmen, die geografischen und zeitlichen Grenzen ebenso. Schließlich beginnt man sich an zu fragen, wer wer ist und wo was geschieht. Alles ist, wie es scheint, und doch ganz anders.
Sama Maani zieht uns hinein in ein Vexier- und Verwechslungsspiel, ein Spiel mit Identitäten zwischen Graz und Teheran, zwischen Messias und Marx, und lässt uns am Ende schließlich ungläubig zurück.
Von den Irren in unserer Familie, die mir meine Eltern ständig vor Augen hielten, weil ihnen mein Verhalten Anlaß gab, zu glauben, mir drohe dasselbe Schicksal, ist mir mein seit Jahren verschollener Onkel Danusch der liebste. An den Irren irritiert bekanntlich ihre Fähigkeit, sich eine Welt aufzubauen, eine Eigenwelt, in die sie sich mehr oder weniger behaglich einzurichten vermögen, und unabhängig von der Nicht-Irren-Welt, auch ich hatte mir als Kind eine Eigenwelt aufgebaut, ohne noch ein Irrer zu sein, nein, mehrere, und mit jeder Eigenwelt wurde die Sorge der Eltern, mir drohe das Irrenschicksal, größer und nicht zu Unrecht, bedenkt man, was später geschah.
Bis in die Pubertät hinein gab ich zum Beispiel meine Gewohnheit nicht auf, wie ein Säugling an meinem Daumen zu lutschen, auch heute noch lutsche ich, um ehrlich zu sein, wenn mich Angst oder Sorgen quälen, meinen Daumen, oder reibe, wenn mich Angst oder Sorgen in der Öffentlichkeit quälen, meinen Daumennagel, der Wärme verströmt und mannigfache Gerüche, Muttermilchgerüche, Mutterbrustgerüche und die anrüchigen Düfte eines Frauenschosses, zwischen Oberlippe und Nase.
Sie verstehen mich schon richtig, Frau Wundt. Die Wärme und der Eigengeruch meines linken Daumennagels sind eine Welt für mich, eine Eigenwelt, in der ich mich, ohne noch ein Irrer zu sein und unabhängig von der Nicht-Irren-Welt, mehr oder weniger behaglich einzurichten vermag.

Die zweite meiner Eigenwelten betrat ich kurz nach der Vollendung meines elften Lebensjahres, als ich, wie irgendeinmal in seinem Leben jeder Teheraner, mich plötzlich für Gedichte zu interessieren begann. Für gewöhnlich setzt das Gedichte-Interesse bei einem Teheraner etwas später ein, in etwa zwischen fünfzehn und achtzehn, Gedichte zu memorieren und zu rezitieren, Gedichte zu fabrizieren und an endlosen Gedicht-Ketten-Wettbewerben teilzunehmen, ist, wie das Skilaufen in der kalten und das Buschenschanksitzen in der warmen Jahreszeit bei Ihnen in Graz, bei uns in Teheran ein Volkssport. An Gedicht-Ketten-Wettbewerben nehmen immer zwei Personen teil, die eine sagt einen Vers eines bekannten Gedichts auf, draufhin muß die andere ebenfalls einen bekannten Gedichtvers aufsagen, der den Endbuchstaben des ersten Verses als Anfangsbuchstaben enthält, alle Teheraner, auch die Ungebildeten und Analphabeten, kennen eine Menge Gedichte auswendig, die erste Person muß dann einen dritten Vers aufsagen, der mit dem letzten Buchstaben des zweiten Verses beginnt und so fort. Derjenige, dem als ersten kein passender Vers mehr einfällt, hat verloren, ist verloren, müßte man sagen, er schämt sich in Grund und Boden, die Kultur der Teheraner gehört zu den Scham-Kulturen, es kommt vor, daß sich der Verlierer eines Gedicht-Ketten-Wettbewerbs anderntags den Strick gibt, oder die Kugel.

(Aus dem ersten Brief von Arasch Bastani an seine Psychiaterin Veronika Wundt)