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Gianna Frölicher, Sylvia Sasse, Eckhard Wälzholz (Beteiligte)

Gerichtstheater


Drei sowjetische Agitgerichte: Gericht über eine Kurpfuscherin (1925), Gericht über Gott (1924), Gericht über einen Bücherschänder (1932)
Herausgegeben von Sasse, Sylvia; Frölicher, Gianna; Übersetzung: Wälzholz, Eckhard
2015. 181 S. 24 cm
Verlag/Jahr: LEIPZIGER LITERATURVERLAG 2015
ISBN: 3-86660-195-6 (3866601956)
Neue ISBN: 978-3-86660-195-6 (9783866601956)

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´"Gerichtstheater" war in der jungen Sowjetunion eines der populärsten Unterhaltungsgenres. Landesweit wurden kleine Broschüren mit Agitationsgerichten (Agitsudy) in Auflagen von teilweise bis zu 100´000 Exemplaren herausgegeben. Die Stücke gehören in den Bereich der Agitation und bilden die Grundlage für die enge Verbindung von Theater und Gericht, die bis heute in Russland zu beobachten ist. Die Stücke sind aber zum Teil auch sehr komisch, geradezu karnevalesk, wenn zum Beispiel Gott oder eine Mücke vor Gericht gestellt werden. Die drei hier ausgesuchten Agitgerichte stehen für unterschiedliche Phasen des Genres und zeigen, dass sich Theater und Gericht immer weniger voneinander unterscheiden lassen. Als das Genre in den 1930er Jahren verschwindet, wird es von einer theatralen Justiz, Laiengerichten und Schauprozessen regelrecht abgelöst. Die Stücke sind aber nicht nur relevant für die Überblendung von Theater und Justiz in der sowjetischen Gesellschaft, sondern auch für das Theater der 1920er Jahre. Sie bilden einen Kontrapunkt zu Brechts Lehrstücken, sind politisierter Ausdruck der Einbeziehung der Zuschauer, die immer mehr zu einer Illusion gerinnt. Auch Walter Benjamin, der als Zuschauer in das "Gericht über eine Kurpfuscherin" gerät, ist sich, wie man im Moskauer Tagebuch nachlesen kann, zunächst nicht ganz sicher, ob er im Theater oder in einer Gerichtsverhandlung sitzt. Aus dem Vorwort: Gerichtstheater war in der jungen Sowjetunion eines der populärsten Unterhaltungsgenres. Landesweit wurden kleine Broschüren mit Gerichtsstücken in Auflagen von teilweise bis zu 100.000 Exemplaren herausgegeben. Die erste uns bekannte Broschüre stammt von 1921, sie wurde in Kiev gedruckt und enthält ein nur elfseitiges, stichwortartig verfasstes Skript zur Inszenierung eines Gerichts über eine Aufklärungstruppe, die ihre Gefechtsaufgabe nicht erfüllt hat (Sud nad razvedkoj, nevypolnivsej boevogo zadanija). Das Gerichtsstück war für die Aufführung im Theater der Roten Armee während des russischen Bürgerkriegs vorgesehen. Ab 1923 wurden dann massenweise Gerichtsstücke herausgegeben, und allmählich setzte sich der Begriff ´Agitgericht´ (agitacionnyj sud, kurz agitsud) als Bezeichnung für das neue Theatergenre durch. Die Broschüren mit den Agitgerichten waren hauptsächlich für die Intendanten der neu entstehenden Arbeiter- und Bauernklubs in den Städten oder Lesehütten auf dem Land vorgesehen, die mit der Organisation der Freizeitgestaltung und des Kultur- und Aufklärungsprogramms für die Arbeiter oder Bauern beauftragt waren. Wie der Name sagt, sollten die inszenierten Gerichtsprozesse agitatorisch wirken: Sie sind vor allem Lehrstücke, die die Massen emotional und rational von der sowjetischen Politik überzeugen sollen und deren literarischer, ästhetischer und künstlerischer Wert zweitrangig ist. Die Autoren sind keine Literaten, sondern Ärzte, Agronomen oder Komsomolsekretäre. Über die dramatische Verhandlung von ´Problemen´ des nachrevolutionären Alltags - die in den Stücken letztlich immer auf ein Fehlverhalten bestimmter Personen zurückgeführt werden können - sollten die Prinzipien und Ordnungen der neuen sowjetischen Gesellschaft propagiert werden. In den Gerichtsstücken zeigt sich die typische Ambivalenz der postrevolutionären 1920er Jahre: Sie verstehen sich als fortschrittlich, wenden sich gegen medizinisches Unwissen, informieren über neue Gesetze, z.B. über die Legalisierung von Aborten, fordern eine bessere medizinische Versorgung auf dem Dorf, klären darüber auf, was sich hinter religiösen Ritualen verbirgt, setzen Wissen gegen Wunder und üben gleichzeitig Verhaltensnormen und Disziplinierungsformen ein, die den Übergang von Religion und Kommunismus, von Kapitalismus und Diktatur fließend machen. Dass man es mit einem Theaterstück und nicht etwa mit einem Gerichtsprotokoll zu tun hat, entdeckt man in den Broschüren teilweise ers
Sylvia Sasse (Dr. phil.), studierte Slavistik und Germanistik in Konstanz, St. Petersburg und Moskau; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literaturforschung in Berlin mit einem Projekt zur Beicht- und Geständnispraxis in Rußland.