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Udo Kawasser
Unterm Faulbaum
Aufzeichnungen aus der Au
2016. 96 S. 21 cm
Verlag/Jahr: SONDERZAHL 2016
ISBN: 3-85449-460-2 (3854494602)
Neue ISBN: 978-3-85449-460-7 (9783854494607)
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Wo kommt die Kugel unserer Bewegungen zum Stillstand? Gibt es noch Plätze, an denen wir innehalten können? Der Altarm der Donau, den der vielgereiste Dichter Udo Kawasser über Jahre immer wieder in der Wiener Lobau aufsucht, ist ein Rückzugsraum, der ihm kaum von anderen streitig gemacht wird, ein Resonanzraum, an dem er zu produktiver Ruhe findet. Ist er der "rechte Ort", weil "ich hier die Natur und in ihr mich selbst erfahre? Oder gar, weil ich hier unterm Faulbaum seit Jahren lese und schreibe und weil ich nur ankomme, wenn ich zu Worten und damit zu mir selbst finde?"
Der Autor sucht die Nähe zum Wasser, "das sich wellt und kräuselt" und zum Spiegelkabinett eigener und fremder Gedanken wird. Im Zwiegespräch mit AutorInnen wie Camus, Valery, Thomas von Aquin oder Susan Sontag beginnen Lesen und Schreiben ineinander zu verlaufen. "Ein Gefühl von Zeitlosigkeit" stellt sich ein, was ihn aber nicht davon abhält, schonungslos über die eigene Zeitlichkeit, die unübersehbaren Spuren des Alterns zu sinnieren. Im nächsten Moment aber wird das Wasser zum Element, "in das er beim Schwimmen eintauchen kann", zum Ort "ekstatischer Erfahrungen".
Hin und wieder zieht der Dichter an seinem Platz unterm Faulbaum "einen Ziegel von Naturführer" zu Rate, liest, dass sich der "lateinische Name des Faulbaums, frangula von frangere = brechen herschreibt. Dass das Holz leicht bricht, ist also nicht nur meine Erfahrung gewesen, sondern hat die Römer sogar zu ihrer Namensgebung veranlasst, während die Germanen den dumpf-faulen Geruch der Rinde so charakteristisch empfanden, dass sie den Baum danach benannten."
Die Sprachlosigkeit der Natur ist eine Herausforderung, der man auch mit Schweigen begegnen kann - vorausgesetzt man ist bereit, sich als Mensch in ein Stück Natur (zurück-)zuverwandeln. Nur die Kunst, die Poesie kann für dieses Schweigen eine Sprache finden, die Sprachlosigkeit der Natur aufheben, ohne sie zu zerstören.
Richte mich auf, um schwimmen zu gehen, und steige ins Mühlwasser. Am Uferrand sehe ich über mir den Ast eines Faulbaums. Das plötzliche Verlangen hinaufzuspringen, am Ast über dem Wasser zu baumeln und das Gewicht in den Gelenken und Muskeln zu spüren. Gehe in die Hocke, schnelle zögerlich hoch und erreiche im Sprung auch nicht den anvisierten Ast. Versuche es nochmals, mit tieferer Hocke und größerer Entschlossenheit. Im Scheitelpunkt des Sprungs die graubraune Rinde, greife zu. Unter meinem Gewicht beginnen die Handflächen auf der rauen Oberfläche leicht zu brennen. Da birst und splittert der Ast mit einem lauten Krachen.
Bin bestürzt, als hätte ich jemanden verstümmelt. Verstehe nicht, was passiert ist. Suche panisch nach einer Erklärung dafür, dass der Ast nicht elastisch mit meinem Gewicht mitschwang. Sehe nun: Knapp hinter der Bruchstelle liegt er in der Astgabel eines anderen Faulbaumstämmchens. Über die Kante dieser Gabel ist er gebrochen. Beruhige mich mit dem Gedanken, dass es so hatte kommen müssen. Beruhige mich nicht. Gehe nicht schwimmen. Schreibe.
Kawasser, Udo
Udo Kawasser, geb. 1965, wuchs am österreichischen Bodensee auf, studierte deutsche, französische und spanische Philologie in Innsbruck und Wien. Zeitgenössischer Tänzer, Dichter, Übersetzer spanischsprachiger Literatur, Deutschlehrer am Sprachenzentrum der Universität Wien. Debütierte 2007 mit der Prosa ¯Einbruch der Landschaft. Zürich - Havanna®. Seither mehrere Gedichtbände, zuletzt ¯kleine kubanische Grammatik® (2012).