Neuerscheinungen 2016Stand: 2020-02-01 |
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Young-sook Moon
Flucht über den Tumen
Die Geschichte eines nordkoreanischen Jungen
2016. 363 S. 207 mm
Verlag/Jahr: HETZER 2016
ISBN: 3-9811287-2-9 (3981128729)
Neue ISBN: 978-3-9811287-2-7 (9783981128727)
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Dieser Roman erzählt die Geschichte eines Jungen, der versucht, den schrecklichen Lebensbedingungen in Nordkorea zu entkommen und sich auf die Flucht nach China begibt, um seine verschollene Schwester zu finden.
Als in Nordkorea eine furchtbare Hungersnot herrscht, verliert Yeong-dae seine beiden Eltern und ist bald gezwungen, auf der Straße zu leben und betteln zu gehen. In der Not macht sich der Junge auf die Suche nach seiner verschollenen Schwester, die nach China entführt wurde. Die abenteuerliche Reise ist voller Gefahren, doch Yeong-dae trifft auch auf Menschen, die ihr Leben riskieren, um ihm zu helfen und auf Freunde, mit denen er gemeinsam die größte Not durchsteht und die er niemals vergessen wird.
1. Die Grenze
Der Himmel war so klar wie eine Glasscheibe, so klar, dass man ihn mit einem Nadelstich zerstechen konnte. Da waren überhaupt keine Wolken, hinter denen sich Yeong-dae hätte verstecken können.
Er hatte schon seit dem Beginn des Sonnenunterganges hinter den Hügeln im Westen starkes Herzklopfen. Sein Freund Nam-sik schluckte nervös.
"Unser Schicksal wird sich heute Abend entscheiden. Nachdem die Nachtwachen ihre erste Patrouille gemacht haben, werden wir den Fluss überqueren. Weil es nach Mitternacht ist, werden die Wächter dann ein Schläfchen machen", sagte
Nam-sik.
"In Ordnung, aber was passiert, wenn wir erwischt werden?"
Nam-sik schlug Yeong-dae auf die Schultern. "Möchtest du uns verfluchen? Wenn wir erwischt werden, sagen wir, dass wir nach China gehen, um Essen zu suchen. Verstanden?"
Yeong-dae schloss seinen Mund und nickte. Er hatte richtig Angst, dass er etwas Unangebrachtes im falschen Moment sagen würde.
Der Himmel wurde sehr schnell dunkel. Nam-sik, der direkt vor Yeong-dae stand, sah wie ein schwarzer Stein aus. Er sagte leise:
"Von jetzt an beobachten wir die Lichtstrahlen genau. Wenn die Wächter wechseln, werden die Lichtstrahlen der Taschenlampen hin- und herzucken. Wir warten ruhig, bis die neuen Wächter ihre Nachtwache antreten. Egal, was passiert, beeil
dich nicht."
Nam-siks Stimme hatte eine gewisse Autorität, die ihn wie einen Beamten der Arbeiterpartei wirken ließ. Mit geballten Fäusten leckte Yeong-dae seine Lippen und schluckte. Seine Handflächen begannen zu schwitzen.
Um den Wachposten herum leuchteten Taschenlampenstrahlen auf. Es waren zwei. Die Lichtstrahlen bewegten sich langsam auf die nächste versteckte Wachstation zu. Die Lichter schwirrten wild umher. Einen Moment später waren sie wieder verschwunden. Es schien, als wären die Lichtstrahlen in das Wachhäuschen hineingegangen. Danach war längere Zeit kein Geräusch zu hören. Offensichtlich übergaben die Wächter einige Geräte an ihre Ablösung. Wieder erschienen die Lichtstrahlen. Es waren die Taschenlampen der Wächter, die zurück in ihre Kaserne gingen.
"Jetzt werden die Wächter im Dienst gleich mit ihrer Patrouille beginnen. Wir müssen sehr vorsichtig sein, bis sie damit durch sind," flüsterte Nam-sik.
"Alles klar."
Die Zeit verging unglaublich langsam. Endlich konnten sie erneut ein Licht erkennen. Die Wachleute gingen los. Einige Zeit lang wanderten die Lichtstrahlen hin und her, über die Eisdecke des Flusses tanzend. Die beiden Strahlen flackerten wie Leuchtkäfer an einem schwülen Sommerabend. Sie streckten sich lang und schrumpften dann, malten Bögen und Winkel, kamen näher und schlichen wieder davon. Yeong-daes Augen waren auf die Strahlen fixiert. Jeder einzelne Muskel
in seinem Körper war angespannt. Die Strahlen lugten hinter Baumstämmen hervor, geradeso, als spielten sie Verstecken.
Der Augenblick, in dem die Lichtstrahlen wieder im Wachhäuschen verschwinden würden, war der schicksalhafte Moment. Was auch passierte, sie mussten es schaffen! Sie mussten wie Geister durch ein Loch zwischen den versteckten Wachposten schlüpfen. Yeong-dae überlegte, warum Menschen keine Flügel haben. Er wünschte sich, dass seine Schritte so leise wie die einer Katze wären. Noch besser wäre es, sie könnten unsichtbar sein. Könnten sie doch nur schon in China sein!
Endlich verschwanden die Lichter.
"Okay, jetzt zähle bis Zehn und lauf: Eins!" flüsterte Namsik.
Yeong-dae zählte mit ihm bis Zehn. "Zwei... Drei... Vier... Fünf... Sechs... Sieben... Acht." Er zitterte am ganzen Körper. "Neun... Zehn!"
"Jetzt auf, beweg dich!" sagte Yeong-dae, sobald er mit dem Zählen fertig war.
Er machte den ersten Schritt. Alles, was sie tun mussten, war einen steilen Abhang hinunterzugehen und sie wären am Fluss. Besorgt, dass er rutschen und den Hügel hinunterrollen könnte, bewegte er sich vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen, immer den Boden abtastend. Schließlich stand er direk