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Neuerscheinungen 2017

Stand: 2020-02-01
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Silvia Lutz, Judith Pella (Beteiligte)

Heimat meines Herzens


Übersetzung: Lutz, Silvia
2017. 439 S. 18.7 cm
Verlag/Jahr: FRANCKE-BUCHHANDLUNG 2017
ISBN: 3-86827-672-6 (3868276726)
Neue ISBN: 978-3-86827-672-5 (9783868276725)

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1946-48: Der Krieg ist vorüber. Das Leben der Hayes-Schwestern könnte wieder in ruhigeren Bahnen verlaufen - wäre da nicht das ungeklärte Schicksal von Camerons Mann. Nachdem sich der Eiserne Vorhang gesenkt hat, kann er die
Sowjetunion nicht mehr verlassen. Doch aus Liebe zu seiner Frau setzt er alles auf eine Karte: Im Dienst des amerikanischen Geheimdienstes will er die Flucht in die Freiheit erzwingen. Als sein Plan scheitert, können Cameron, Blair und Jackie nicht länger tatenlos abwarten. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg in das Reich des roten Zaren.
1

Deutschland
April 1946

Das Kerzenlicht warf bizarre Formen auf die strahlend weiße Tischdecke und malte flackernde Muster aus Licht und Schatten. Cameron starrte wie gebannt auf die flatternden Farbschattierungen. Sie bemühte sich, ihren Blick nicht zu dem leeren Stuhl wandern zu lassen, der ihr gegenüber am Tisch stand, aber es gab nichts anderes, an das sie ihren Blick hätte hängen können, nichts, bei dem ihr Herz sich nicht so schmerzlich zusammengezogen hätte, als würde eine starke Faust es zermalmen.
Aber sie und Alex hatten einander versprochen, dass sie dieses Ritual pflegen würden, das ihr jetzt ebenso dumm wie unglaublich passend erschien. Aus diesem Grund hatte sie das beste Porzellan, das Silberbesteck und die schönsten Kristallgläser des Hotels für zwei Gedecke bestellt. Ein junger Mann hatte ihr die Sachen gebracht und geholfen, den Tisch zu decken. Er hatte sie mit einem leichten Augenzwinkern bedacht, da er vermutete, sie bereite alles für ein romantisches Rendezvous vor. Er grinste immer noch, als er - vor einer halben Stunde - einen Servierwagen mit einem köstlichen Menü für zwei Personen ins Zimmer gerollt hatte. Der Junge war nicht älter als achtzehn oder neunzehn, blond und fröhlich. Er könnte in der Hitlerjugend gewesen sein, überlegte Cameron. Sein Auftreten ließ nicht erahnen, dass sein Land vor knapp einem Jahr eine vernichtende militärische Niederlage erlitten hatte. Er sah eher wie ein Kind aus, das Spaß haben wollte. Cameron gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, damit er seine Freundin zum Essen und ins Kino ausführen konnte. Wenigstens ein Liebespaar sollte heute Abend glücklich sein.
Dieses Glück würde es hier im Zimmer 214 des Hotels Schmidt in Nürnberg nicht geben. Schon als der Servierwagen gekommen war, hatte Cameron gewusst, dass sie keinen Appetit auf Rinderbraten, gratinierte Kartoffeln und Sahnekarotten hätte. Das war alles nur symbolisch, genauso wie das Kerzenlicht und die eleganten Gedecke. So hatten Alex und sie ihren ersten Hochzeitstag verbringen wollen. Miteinander. Alex hatte vorausgesehen, dass sie vielleicht nicht zusammen sein könnten, aber gehofft, es könnte den Schmerz über ihre Trennung lindern, wenn sie irgendwie im Geiste miteinander verbunden wären. In den wenigen Briefen, die sie dank Robert Wood von der amerikanischen Botschaft in Moskau, der als Mittelsmann für ihre unerlaubte Kommunikation diente, einander geschickt hatten, hatten Alex und Cameron sogar die Uhrzeit für ihr Festessen festgelegt. Da Cameron bereits wusste, dass sie zu diesem Zeitpunkt in Deutschland wäre, hatten sie sich für neunzehn Uhr mitteleuropäischer Zeit entschieden, was bedeutete, dass es in Moskau einundzwanzig Uhr war.
Jetzt, in dieser Minute, saß Alex in Moskau ebenfalls an einem Tisch, wahrscheinlich in seiner kleinen Wohnung, mit Kerzenlicht und einem guten Essen, soweit er das in einem Land, das sich immer noch nicht von der Lebensmittelknappheit erholt hatte, bewerkstelligen konnte. Was auf ihren Tellern lag, war unwichtig, egal, ob es Borschtsch und Brot oder Chateaubriand war. Alex saß an einem Tisch und starrte ebenfalls ein leeres Gedeck und einen leeren Stuhl an.
Waren sie verrückt? War dies das morbideste Ritual, das sich Menschen je ausgedacht hatten?
Tränen stiegen Cameron in die Augen. Oh, wie sie es hasste zu weinen! Sie hatte Menschen, die in Selbstmitleid aufgingen, nie viel Mitgefühl entgegengebracht. Aber sie konnte ihre Melancholie nicht so leicht abschütteln. Schon an ihrem Hochzeitstag hatte sie gewusst, dass sie sich auf eine scheinbar unmögliche Situation einließen. Sie hatte es gewusst, aber irgendwie hatte sie es nicht wirklich geglaubt. Sie erinnerte sich an das, was sie zu Alex gesagt hatte, als sie ihm einen Heiratsantrag machte:
Alex, in der Ehe liegt eine Kraft. Ich weiß es! Eine tiefe, geistliche Kraft und eine Macht, die uns in der Zukunft wieder zusammenführen wird. Das weiß ich ganz sicher.