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Neuerscheinungen 2018

Stand: 2020-02-01
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Sophie Heeger

Kaktus und Kanarienvogel


Roman
2018. 208 S. 210 cm
Verlag/Jahr: DIELMANN 2018
ISBN: 3-86638-244-8 (3866382448)
Neue ISBN: 978-3-86638-244-2 (9783866382442)

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Sophie Heeger führt uns mit ihrer Figur Anna in eine traumartige Welt, in der eine Frau von nichts bedrängt scheint als von der Organisation einer Reise, die sie selbst "Flucht" nennt. Mehr irritiert uns anfangs nicht, wenn wir ihr nach Venedig, Amsterdam und Paris folgen. In die Wirklichkeit der Reisenden brechen jedoch schon bald Beklommenheit und Schrecken ein und die reisende Frau nimmt einen wandelbaren, unsicheren Boden unter ihren Füßen wahr ... Ein Roman über Sprachlosigkeit, vergrabene Erinnerungen, die Brüchigkeit der Wahrnehmung und die Notwendigkeit, sich der eigenen Geschichte zu stellen.
Nie zuvor hatte Anna an Flucht gedacht. Doch an diesem Vormittag war der Gedanke plötzlich da. Wie aus dem Nichts tauchte er auf, gerade als Anna ein Handtuch aufhob, um es in den Wäschekorb zu werfen. Der Gedanke an eine Flucht erschien Anna jedoch fremd, sogar gefährlich, und so schob sie ihn rasch beiseite. Denn weder mochte sie das Fremde noch das Gefährliche. Doch der Gedanke war hartnäckig. Er kam zurück und dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen. Schließlich ging Anna in die Küche, um das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Insgeheim hoffte sie, den Gedanken zu überlisten, indem sie das Zimmer, die Tätigkeit und den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit wechselte. Der Versuch schlug fehl. Der Gedanke blieb beharrlich und machte Anstalten, sich auf Dauer bei ihr einzunisten. So blieb Anna nichts übrig, als sich mit ihm zu beschäftigen. Eine Flucht! Ein rascher Aufbruch! Das Zimmer oder sogar die Stadt verlassen? Und mit welchem Ziel?
Dass der Gedanke so viele Fragen nach sich zog, verwirrte Anna. Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Soweit sie sehen konnte, war niemand unterwegs. Nur die Alte vom zweiten Stock, die ihre Haare zu zwei dünnen Zöpfen geflochten trug, schlurfte zur Mülltonne. Dort öffnete sie den Deckel, warf eine Plastiktüte mit Restmüll hinein und schaute sich um. Wollte sie sichergehen, dass der Tag hier unten nichts anderes zu bieten hatte als oben an ihrem Fensterplatz? Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und schlurfte zurück zum Haus.
Anna war so nah an das Fenster getreten, dass die Scheibe von ihrem Atem beschlug; die Konturen der Häuser gegenüber verwandelten sich in graue Schattenbilder. Vielleicht gab das den Ausschlag, vielleicht auch nicht: Ohne weiter nachzudenken, zog Anna feste Schuhe an, band die Schnürsenkel zu einem Doppelknoten und öffnete den Dielenschrank. Sie zog einen Wintermantel mit warmem Futter vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Dann trat sie vor den Spiegel, fasste ihr krauses Haar im Nacken zusammen und wickelte ein Gummiband darum. Mit beiden Händen strich sie die kurzen Härchen zurück, die als struppiger Heiligenschein von einem Ohr zum anderen zogen; bei passender Beleuchtung strahlten sie golden. Aber diese Art von Beleuchtung gab es selten und so beachtete Anna das Phänomen nicht mehr. Wie sie überhaupt ihr Spiegelbild nicht mehr betrachtete, an das sie sich gewöhnt hatte wie an eine alte Kaffeekanne oder das Sofa im Wohnzimmer. Und so störte es sie auch nicht, dass Physiognomie und Körperform sich nicht an gängige Idealmaße gehalten hatten. Ihre Lippen waren zu üppig, der Mund zu breit und ihre Nase zu lang, mit einen deutlichem Schwung nach oben. Soweit das Gesicht. Aber auch Annas Füße hatten Eigensinn gezeigt und waren selbst nach ihrem achtzehnten Geburtstag weitergewachsen, im derben Leder der Schnürschuhe sahen sie alles andere als zierlich aus. Vielleicht war auch in Annas Innerem etwas zu groß geraten, aber dergleichen war im Spiegel nicht zu sehen. Dem drehte Anna nun den Rücken zu und schob das Portemonnaie in die Tasche des dunkelbraunen Mantels. Die Hose war in einem Braunton wie die Schuhe, wenn auch ein wenig dunkler. Ob eine Flucht in den Wald eine gute Idee wäre? Sie stellte sich einen lichten Buchenwald vor, dazwischen einige Baumstümpfe, umgeben von Tüpfelfarn, Elfenblume und breitblättrigem Stendelwurz. Weshalb nicht? Neben Baumstümpfen fiele ihre Anwesenheit sicher nicht auf. Baumstümpfe bemerkte nicht einmal mehr der Förster, der durch den Wald stapfte, um dicht stehende Buchen oder Kiefern für Holzfällarbeiten zu markieren. Und hätte ein Baumstumpf nicht einiges zu bieten? Ihn hielten kräftige Wurzeln im Waldboden fest, obwohl sein Stamm längst unter dem Kreischen einer Motorsäge in Stücke geschnitten worden war. So hatte er das Werk der Zerstörung bereits hinter sich, wurde von Pilzen, Moos und kleinen Kriechtieren besiedelt und konnte der einsetzenden Fäulnis