Neuerscheinungen 2018Stand: 2020-02-01 |
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Annette Lory
Meer und Berge
2018. 216 S. 21.5 cm
Verlag/Jahr: KOMMODE VERLAG 2018
ISBN: 3-9524626-7-5 (3952462675)
Neue ISBN: 978-3-9524626-7-6 (9783952462676)
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Im Zentrum von Annette Lorys Roman steht die Freundschaft zwischen zwei Frauen. Monika und Helen. Meer und Berge. So unterschiedlich wie ihre Sehnsuchtsorte sind auch ihre inneren Landschaften, ihre seelischen Topographien. Monika, die Suchende, Helen, die Radikale. In ihrer innigen Beziehung gleichen sie sich einander mehr und mehr an, werden zu "zwei Schattierungen des selben Blaus". Während einer Reise nach Griechenland kommt es zum jähen Bruch zwischen den jungen Frauen. Ein Bruch, der unüberwindbar scheint. Ein Jahr lang. Dann der Versuch, die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, zu schliessen, auf einer gemeinsamen Bergtour. So war es gedacht. Doch Monika stürzt.
In Rückblenden wird die Geschichte nach und nach greifbar. Monika, die Ich-Erzählerin, reist zurück in verschiedene Vergangenheiten: Ihre Kindheit in der Enge eines Durchfahrtstals, die Flucht in die grosse Stadt am See, Szenen der Freundschaft, die Suche nach Helens Vater, Trennungen ... Dazwischen reihen sich traumartige Sequenzen und verschwommene Wahrnehmungen aus der Gegenwart im Spital.
Ich treibe im Nichts. Mein Körper driftet auseinander, Arme und Beine haben sich vom Rumpf gelöst.
Ich fühle nichts - keinen Schmerz, keine Angst, rein gar nichts. Ich schwebe über mir, über dem, was von mir übriggeblieben ist: lauter Einzelteile, die genauso gut zu jemand anderem gehören könnten. Ich schwebe über meinen Gliedmaßen, umkreise sie, wieder und wieder, als wäre ich ein Hirtenhund, als könnte ich mich selbst zusammentreiben.
Später rufe ich Namen. Ich rufe Mutter, Vater, Mani, Helen? Hört ihr mich?
Keine Antwort. Nur das ferne Echo von Carlos´ Stimme: Was hat gehören mit hören zu tun? Was für eine seltsame Sprache du sprichst, Monika!
Die Zugfahrt dauerte ewig. Als wir unser Ziel endlich erreichten, hatten bereits erste Wolken das Blau des Himmels befleckt, noch waren sie weiß, später würden sie sich zu dunklen Türmen aufbauschen: oben grau, unten schwarz und an den Rändern - dort, wo die Sonne sie von hinten beleuchtete und versuchte, sich einen Weg zu bahnen - gleißend hell.
Helen ging voran, wie zwei übermütige, junge Hunde hüpften ihre Schuhe vor mir her, wiesen mir den Weg, lockten mich immer weiter. Orange ist nicht Rot. Bei Rot hätte ich angehalten und wäre umgekehrt. Spätestens am Fuße der ersten Leiter. Spätestens dann hätte ich aufgegeben und wäre zum Ausgangspunkt zurückgekehrt - zum Bus, der vielleicht noch da gestanden, mich sicher zum Bahnhof zurückgeschaukelt hätte.
Orange ist nicht Rot. Statt stehenzubleiben oder Helen aufzufordern, ihr Tempo zu drosseln, ging ich schneller. Ich wollte mir keine Blöße geben, wollte diese Wanderung einfach nur hinter mich bringen, starrte noch konzentrierter auf Helens Schuhe, auf das leuchtende Obermaterial, das Schwarz der Sohlen - orange, schwarz, orange - ein rhythmischer Wechsel, beruhigend beinahe. Ich schaffte eine Leiter nach der anderen, glaubte immer wieder, nicht mehr weiterzukönnen, wusste gleichzeitig, dass eine Umkehr noch heikler wäre, dass ich den Abstieg, den direkten Blick in die Tiefe, noch viel weniger ertragen könnte. Also ging ich weiter, hielt mich auf den schmalen Wegen, die von einer Leiter zur nächsten führten, an metallenen Seilen fest, konzentrierte mich dabei so sehr auf meine eigenen Schritte, dass ich beinahe mit Helen zusammengeprallt wäre. Unvermittelt war sie mitten auf dem Weg stehengeblieben, machte nun einen Schritt in Richtung Abgrund.
"Lass das?", rief ich und packte sie am Arm.
"Hey, du hast doch nicht etwa Angst?", lachte Helen, dann beugte sie sich leicht nach vorn und stieß einen lauten Jauchzer aus - eine Reihe heller Töne, die in der nachmittäglichen Stille verhallten.