Neuerscheinungen 2019Stand: 2020-02-01 |
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Christoph Hohl
Der Untersuchungsrichter
Mikado
2019. 138 S. 191 x 125 mm
Verlag/Jahr: EUROPÄISCHE VERLAGSGESELLSCHAFTEN 2019
ISBN: 3-03-883072-0 (3038830720)
Neue ISBN: 978-3-03-883072-6 (9783038830726)
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Jorin hatte früher die halbe Welt bereist und deren Kulturen kennen gelernt. Später hatte er - wegen eines traumatischen Ereignisses in seiner Kindheit - als Untersuchungsrichter nach der Wahrheit und dem Sinn des Lebens gesucht. Mitten in den Schrecken seiner Strafuntersuchungen.
Schliebetalich ist er zu einem nachdenklichen, alternden Mann geworden, der Antworten auf die philosophischen Fragen des Lebens sucht.
Wie alles begann
Als Jorin ein Kind war, hatte er beim Wasserturm seinen selbstgebauten Drachen im Wind in Richtung Himmel hochsteigen lassen. Wunderschön hatte das ausgesehen, wie der Drache in der Sonne glänzte und von einem Schwarm Vögel begleitet wurde.
Da hatte es plötzlich einen dumpfen Knall gegeben, und Jorin hatte zuerst gar nicht begriffen, was geschehen war. Dann erst erkannte er, einige Meter vor sich, die zerschmetterte Silhouette einer Frau. Sie war vom Wasserturm gestürzt und vor ihm auf dem Betonboden aufgeschlagen. Beim Aufschlag waren ihre Beine regelrecht in ihren Körper gerammt worden.
Jorin hatte im Schrecken seinen Drachen losgelassen, und dieser segelte nun langsam vom Himmel zur Erde hinunter. Er drehte dabei Pirouetten und wurde immer wieder vom Wind erfasst und zurück in Richtung Himmel getragen.
Er rannte dann zu der Frau hin, die noch versuchte, sich aufzurichten und ihm etwas zu sagen, bevor sie starb. Aber Jorin hatte sie nicht mehr verstehen können. Bis heute leidet er darunter - wenn ihm dieses Bild etwa im Traum erscheint - und er möchte wissen, was die Frau ihm sagen wollte. Ob sie etwa - in ihrem jugendlichen Alter - freiwillig in den Tod gesprungen, oder von jemandem gestoßen worden war?
Inzwischen hatten sich - von Jorin unbemerkt - zahlreiche Neugierige eingefunden, die einen Kreis um ihn bildeten. Einige von ihnen schoben Kinderwagen, andere führten ihre Hunde an der Leine. Diese hatten sich zuvor - nach altem Brauch - beim Wasserturm versäubert. Die Leute starrten auf die leblose Frau, um die sich eine Blutlache gebildet hatte. Mobiltelephone gab es damals noch keine, sonst hätten sie die gespenstische Szene wohl fotografiert und ins Internet gestellt.
Polizeibeamte waren nun eingetroffen und sperrten den Ort mit rot - und weißgestreiften Bändern ab. Die Gaffer schickten sie fort. Diese gehorchten auch stumm und entfernten sich langsam. Ganz ohne die Polizisten anzupöbeln oder an ihrer Arbeit zu hindern, wie das heute vielfach Brauch ist.
Jorin blieb ganz alleine bei den Polizisten zurück. Diese hatten offenbar den kleinen Jungen übersehen.
Inzwischen war leise ein schwarzer Leichenwagen vorgefahren. Mit Trauerflor an den Fenstern. Diesem entstiegen zwei Männer, die in schwarzen Uniformen steckten und ernst blickten. Sie packten die Tote in einen Metallsarg und luden diesen in ihr Fahrzeug. Danach verschwand der Leichenwagen wieder so leise, wie er gekommen war.
Einer der Polizisten spülte nun mit einem Schlauch das Blut fort. Jorin konnte ganz deutlich erkennen, dass mit dem Blut auch einzelne Knochensplitter fortgespült wurden, die vom zertrümmerten Schädel der Toten stammten. Schließlich verschwanden Blut und Knochensplitter in einem Abwasserschacht.
Die Sonne begann nun am Horizont unterzugehen und einen roten Teppich über die Landschaft zu legen. Jorin fröstelte es etwas ...
Als dann alle gegangen waren, blieb Jorin noch eine Weile alleine zurück. Ihn plagte noch immer die Ungewissheit darüber, wie genau die Frau zu Tode gekommen sein könnte. Auch noch danach, als er in dieser Nacht keinen Schlaf finden konnte. Und diese Ungewissheit hatte wohl viel später auch in seinem Unterbewusstsein eine Rolle gespielt. Als er nämlich beschlossen hatte, Untersuchungsrichter zu werden. Untersuchungsrichter untersuchen nämlich solche Ereignisse, wie schon ihr Name sagt. Bis kein Raum mehr bleibt, für die quälende Ungewissheit. So wird das Leben wohl gezwungen, alle seine Geheimnisse früher oder später preiszugeben, dachte sich Jorin. Getrieben von der unerklärlichen Hoffnung, irgendwann das Leben selber zu verstehen. Wenn er nur versuchen würde, alle Situationen, wel-che dieses ihm zuspülte, unter dem Aspekt des Strafrechtes zu untersuchen.