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Clemens Ruthner, Matthias Schmidt
(Beteiligte)
Die Mutzenbacher
(Re-)Lektüren eines Wiener Skandalromans
Herausgegeben von Schmidt, Matthias; Ruthner, Clemens
2019. 280 S. 23 cm
Verlag/Jahr: SONDERZAHL 2019
ISBN: 3-85449-513-7 (3854495137)
Neue ISBN: 978-3-85449-513-0 (9783854495130)
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Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt ist der wohl berühmt-berüchtigtste Text der österreichischen Jahrhundertwende-Literatur. 1906 erschienen, bildet der Text nicht weniger als einen Kristallisationspunkt nahezu aller Diskurse über Sexualität im 20. und 21. Jahrhundert: Ein verbotenes Buch und zugleich einer der großen Erotik-Bestseller in deutscher (oder vielmehr: Wienerischer) Sprache, der Generationen von zentraleuropäischen Männern unter der Schulbank "aufklärte". Die Fini wurde verfemt, verfilmt und doch auch verteidigt - und immer wieder für ihren obszön-humoristischen Sprachgestus geschätzt, wie etwa von Oswald Wiener, einem der Köpfe der Wiener Gruppe.
Verfasst von einem Anonymus (hinter dem man oft Felix Salten, den Autor des Kinderbuchs Bambi, vermutet hat), stellte sich bei der Mutzenbacher immer schon die Frage, was moralisch erlaubt ist, wenn vom Geschlechtsverkehr erzählt wird, und was nicht - und schließlich, wem dieser Sex gehört: Zählt dieser Roman zu den "jugendgefährdenden Schriften
"? Darf man ihn verkaufen und Tantiemen dafür verlangen - oder sollte man ihn besser gesetzlich verbieten? Wer hat ihn wirklich geschrieben, wer darf ihn lesen und wer nicht? Ist seine weibliche Protagonistin Vorreiterin eines neuen sex-positiven Feminismus oder ist der Roman Höhepunkt einer unglaublichen Verdinglichung der Frau als sexueller Ware, ja Kinderpornografi e? Wie funktionieren die Strategien dieser Darstellung von Sexualität und innerhalb welches historischen Kontextes können sie erhellend wiedergelesen werden?
Entlang dieser Fragestellungen wurden im Zuge eines eineinhalbtägigen Symposiums Neu- und Re-Lektüren des Skandalbuches aus verschiedenen und vielfältigen Perspektiven unternommen. Das Ergebnis ist der erste umfassende Sammelband zur Thematik, der sich dem Text aus historischer, literatur- und kulturwissenschaftlicher, philosophischer, feministischer, juristischer, psychoanalytischer und forensischer Sicht nähert. Trotz der umfangreichen Wirkungsgeschichte und multimedialen Rezeption des Buches stand eine umsichtige wie interdisziplinäre wissenschaftliche Bearbeitung lange Zeit aus - die neben zahlreichen Detailinterpretationen vor allem auch Material zur Beantwortung der schwierigen Frage liefern soll, wie mit dem Text, dem vermeintlich emanzipatorischen Skandalon Fini umgegangen werden soll.
Mit Beiträgen von (u. a.):
Thomas Ballhausen
Matti Bunzl
Martin A. Hainz
Susanne Hochreiter
Günter Lipold
Wolfgang Müller-Funk
Franz X. Eder
Caitríona Ni Dhuill
Claudia Öhlschläger
Katharina Prager
Vahidin Preljevic
Désirée Prosquill
Marina Rauchenbacher
Clemens Ruthner
Matthias Schmidt
Geraldine Smetazko
Brigitte Spreitzer
Ilse Zatloukal-Reiter
"Die ´Mutzenbacher´ erschien erstmals 1906 als Privatdruck von 1000 nummerierten Exemplaren in Wien und kann kulturhistorisch gesehen als eine Art literarischer Parallelaktion zur Entdeckung der kindlichen Sexualität bei Sigmund Freud gelten: In ihr schlagen sich damit auch die korrodierenden alten und emergenten neuen Diskurse der industriellen Moderne rund um Sexualität und Geschlecht nieder. Selbst aus der sensibilisierten Sicht unserer Gegenwart bleibt der Roman ´skandalös´, weniger wegen der drastischen Darstellung sexueller Akte, sondern wegen der erzählten éducation sexuelle der 1852 geborenen Ich-Erzählerin, die sich im Alter von 7-14 Jahren abspielt; damit werden wir wieder in die sozialen Abgründe der Kultur der Jahrhundertwende und deren Macht-Beziehungen gestoßen - die nach wie vor ein ausuferndes Feld für kulturwissenschaftliche Forschung darstellen.