Neuerscheinungen 2019Stand: 2020-02-01 |
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Andrea Talbot
Der zweite Franz
Roman
Neuausg. 2019. 152 S. 218 x 153 mm
Verlag/Jahr: VERLAG AM RANDE E.U. 2019
ISBN: 3-903190-20-9 (3903190209)
Neue ISBN: 978-3-903190-20-7 (9783903190207)
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Als Georg im Nachkriegsösterreich aus der Strafanstalt entkommt, weiß er noch nicht, dass er seine Identität auslöschen wird. Seine Flucht führt ihn aus den Bergen des Salzkammerguts über Frankreich als Fremdenlegionär nach Algerien, wo er mitten in die Wirren des Befreiungskriegs gerät.
Doch sein Geheimnis wird sich zwischen ihn und die Welt stellen und wann immer er glaubt, angekommen zu sein, wird es dafür sorgen, dass er wieder von vorne beginnen muss.
Eine spannende Familiengeschichte im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute.
Perpignan, Südfrankreich
Jänner 2016
Wir konnten alles über den Bildschirm verfolgen. Ein winziger Raum, in dem fünf Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit das vermeintliche Naheverhältnis zum Verstorbenen war, aufmerksam auf den Monitor blickten. Das schwere Atmen und Schluchzen der drei Frauen mischte sich unter das deutlich wahrnehmbare Züngeln der Flammen. Angespannt starrten wir auf den Sarg auf dem Laufband. Noch hatte es sich nicht in Bewegung gesetzt.
So also endet ein Leben - in der Holzkiste auf dem Förderband, wie die Ware im Supermarkt. Banal. Absurd. Ebenso absurd schien mir, am Vortag ganz Frankreich durchquert zu haben, um nun in diesem Raum zu stehen und darauf zu warten, dass die sterblichen Überreste meines Onkels von den Flammen verschluckt werden. Dicht hinter mir spürte ich die wohltuende Gegenwart meines langjährigen Freundes Jean-Louis, den ich zwar schon 15 Jahre nicht mehr gesehen, zu dem ich aber nach wie vor ein Gefühl ewiger Vertrautheit hatte. Auf dem Bildschirm regte sich immer noch nichts.
In meinem Kopf liefen die Gedanken Amok. Was wusste ich letztlich von dem Mann, der leblos in der Truhe vor uns lag? Ich kannte einige Fakten aus seinem Leben, Anhaltspunkte zur Rekonstruktion seiner Geschichte. Vielleicht hatte ich auch eine Ahnung von den Verletzungen, Kränkungen und Enttäuschungen, die ihm das Leben zugefügt hatte. Ich glaubte zu wissen, dass er es trotzdem geliebt hatte, dass er wie kaum ein anderer in der Natur und vor allem in den Bergen beheimatet war, dass er aus der Einsamkeit seine Vertraute gemacht hatte. Aber was wusste ich wirklich von all den Stunden, ja Jahren, die er allein mit all seinen Erinnerungen verbracht hatte? Wie erstaunt war ich, als er im Alter von siebzig Jahren eine Beziehung zu einer um fast vierzig Jahre jüngeren Frau einging. Und wie wütend war ich vor zwei Tagen, als ich durch die Todesanzeige erfuhr, dass sich diese Frau als seine Nichte und einzige Angehörige ausgab. Um genau zu sein, war es eine Mischung aus Wut, Trauer und Verunsicherung. War es seine Idee, sie als seine Nichte auszugeben? Wollte er auf diese Weise sein Privatleben schützen und lästigen Übergriffen von Nachbarn vorbeugen? Oder wurde er von dieser Frau mit dem Hintergedanken, in den Besitz seines Erbes zu gelangen, manipuliert? Hatte sich diese zurechtgelegte Geschichte gar verselbständigt und hatte er etwa selbst daran geglaubt? Oder spielte diese kleine Lüge für einen Menschen, der den Großteil seines Lebens mit falscher Identität zubringen musste, überhaupt keine Rolle?
Der Bestattungsbedienstete riss mich aus meinen Gedanken. Er bat uns, nochmals in die Vorhalle zu gehen und dort auf die Abkühlung des Ofens zu warten. Ein zu heißer Ofen könne keinen Sarg entgegennehmen. Das wusste ich nicht. Ich folgte den drei Frauen in den Vorraum, Jean-Louis immer dicht an meiner Seite. Seine Anwesenheit war nicht zuletzt so beruhigend für mich, da ich ganz genau wusste, welche Wirkung sein dunkler Blick auf unsere Umgebung hatte. Er hielt mir diese Leute, mit denen ich so wenig wie möglich zu tun haben wollte, vom Leibe.
B. spielte die trauernde Witwe und schluchzte ununterbrochen. Ihr Damengefolge stützte und bemitleidete sie. Ihr Gehabe kam mir dermaßen unecht vor, dass es mir selbst den Zugang zu meinen Gefühlen verstellte. In der Kirche hatte ich nicht eine Träne vergossen, und meine Trauerrede hatte ich mit höchster Konzentration und relativ distanziert gehalten. Noch beim Schreiben der Rede im Café "Le train bleu" am "Gare de Lyon" hatte ich mit den Tränen gekämpft, doch hier in Perpignan, wo mir alles so geheuchelt erschien, konnte ich mich nicht fallen lassen. Erst das Ave-Maria im Krematorium entlockte mir ein paar erlösende Tränen. "Lass es zu, lass es raus", flüsterte mir Jean-Louis von hinten zu und legte dabei seine Hand auf meine Schulter. Ich war ihm dankbar für seine unaufdringliche Präsenz.
Im Warteraum standen Ramon und sein Freund. B