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Gerhard Scheitt

Im Ameisenstaat: Von Wagners Erlösung zu Badious Ereignis


Ein Essay über Musik, Philosophie und Antisemitismus
2017. 160 S. 21 cm
Verlag/Jahr: SONDERZAHL 2017
ISBN: 3-85449-471-8 (3854494718)
Neue ISBN: 978-3-85449-471-3 (9783854494713)

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Der Ameisen-, Termiten- und Bienenstaat werde, schrieb Carl Schmitt einmal, "nur durch völlige Vernichtung der Sexualität dieser Tiere möglich". Beim Menschen sei das "Problem der Staatwerdung" unendlich schwieriger, "weil dieser seine Sexualität nicht aufgibt und damit seinen ganzen rebellischen Individualismus". In diesem Sinn ist Bayreuth so etwas wie die Hauptstadt eines erträumten Ameisenstaats unter Menschen und Wagners Parsifal sein Gründungsmythos.

Gerhart Scheit bringt in seinem luziden Essay zwei Wiener Bayreuth-Pilger zusammen: den Philosophen Otto Weininger, der in Geschlecht und Charakter die Vernichtung der Sexualität als Erlösung phantasierte; und den Komponisten Gustav Mahler, der in seinen Symphonien die musikalische Form fand, Wagners Hass auf die Juden in "Wagnerkarikaturen" zu durchbrechen.

Von dieser Perspektive aus legt Scheit Adornos Wagner-Interpretation offen, die Wagners Modernität und Einflusskraft, aber auch seine "Judenkarikaturen" benannte. Als die Bayreuther Festspiele 1951 wieder eröffneten, versuchte Adorno auf das "Neubayreuth" im Sinne seiner modernen Interpretationen Einfluss nehmen. 60 Jahre später gibt der französische Philosoph Alain Badiou Fünf Lektionen zum ´Fall´ Wagner, als hätte es weder die Deutung Weiningers noch die Moderne in Mahlers Musik und Adornos Kritik je gegeben. Für Scheit lässt Badiou in dem, was er unter "Ereignis" begreift, den Ameisenstaat wiederauferstehen - nur dass hier Mao die Rolle Parsifals übernimmt.
Wie schwierig es sein konnte, in Wien die Musikdramen Richard Wagners zu inszenieren, legt eine Bemerkung nahe, die Gustav Mahler über seine Siegfried-Aufführung von 1898 gemacht haben soll: Der Darsteller des Mime Julius Spielmann wollte "witziger als witzig sein und geriet dadurch vom Charakteristischen ins Parodistische, womit er der Rolle und sich den Garaus machte [...]. Das Ärgste an ihm ist das Mauscheln." Dabei meinte Mahler, die Figur des Mime, wie Wagner sie im Ring des Nibelungen geschaffen hatte, sei "die leibhaftige, von Wagner gewollte Persifla ge eines Juden". Eine solche Persiflage dürfe aber "hier um Gottes willen nicht übertrieben und so dick aufgetragen werden [...] noch dazu in Wien, an der ´k.k. Hofoper´, ist es ja die helle Lächerlichkeit und den Wienern ein willkommener Skandal".
Bei dieser Bemerkung, die sich in Natalie Bauer- Lechners Erinnerungen findet, "deren
Details so nah an der Sache sind, solche Kenntnis der Kompositionsprobleme von der Seite des Komponisten her beweisen, daß man an ihre Authentizität glauben sollte", dachte Mahler vielleicht auch an den legendären Skandal, den fünf Jahre vor Beginn seiner Wiener Studienzeit die Meistersinger auf der selben Bühne mit der Figur des Beckmesser hervorgerufen hatten. Im Jahre 1870 war im zweiten Akt laut gegen Beckmessers Lied protestiert worden ("Wir wollen es nicht hören!"): man hatte es unter anderem als Parodie jüdischer Gesänge verstanden. Seit Adorno in seinem Versuch über Wagner Figuren wie Mime oder Beckmesser als "Judenkarikatu ren" bezeichnete, die durchaus auch mit musi kalischen Mitteln gezeichnet seien, ist die Einschätzung der protestierenden Opernbesucher von 1870 wie auch Mahlers Bemerkung über Mime auf vielfältige Weise untermauert worden.
Scheit, Gerhard
Gerhard Scheit, geb. 1959, Studium an der Wiener Musikhochschule, der Universität Wien und der FU Berlin, lebt als freier Autor in Wien. Arbeiten zur Kritischen Theorie, über den Souverän und die Ästhetik in der Moderne, Mitherausgeber der Jean-Améry-Werkausgabe (2002-2008) und der Zeitschrift sans phrase (seit 2012). Bei Sonderzahl: Feindbild Gustav Mahler: Zur antisemitischen Abwehr der Moderne (2002; gem. mit Wilhelm Svoboda); Treffpunkt der Moderne. Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen (2010; gem. mit Wilhelm Svoboda)